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Vom Amtmann zur Leiterin des Unternehmensbereichs "Wohnen"

Zur Beginn von Sylvia Kerbels Karriere nennt man unverheiratete Frauen noch Fräulein, eine weibliche Form ihrer Amtsbezeichnung bei der Stadt Frankfurt gibt es noch nicht. Als sie im Jahr 2013 nach zwanzig Jahren bei der NHW in den Ruhestand geht, ist sie als Leiterin eines Unternehmensbereichs und Chefin von mehr als 300 Mitarbeitern. Im Interview mit Sylvia Kerbel blicken wir auf eine beispiellose Karriere zurück. 

Frau Dr. Kerbel, wie besonders war es Ende der 1960er Jahre als Frau Karriere zu machen?

Sylvia Kerbel: "Es war vor allem sehr selten! Als ich bei der Stadt Frankfurt anfing, gab es ein internes Telefonbuch der Stadtverwaltung, darin war ich damals die einzige Frau, die nicht als Sekretärin arbeitete. Solange man unverheiratet war, blieb man ein Fräulein. Ich kannte ein Fräulein, das stand kurz vor der Pensionierung. Sie hatte es in ihrer gesamten Laufbahn eine Stufe, also vom Inspektor zum Oberinspektor gebracht. Damals gab es auch noch nicht die Dienstbezeichnung Amtfrau, also musste ich mit 'Kerbel, Amtmann' unterschreiben. Antworten auf meine Briefe kamen dann immer mit der Anrede 'Sehr geehrter Herr Kerbel' an mich zurück."

 

Hatten Sie sich denn vorgenommen Karriere zu machen?

"Zunächst nicht. Wenn ich es bewusst geplant hätte, hätte ich wahrscheinlich Lehramt studiert – wie die meisten Frauen damals mit Abitur. Mein Weg war aber ein anderer. Ich habe sehr früh geheiratet, wollte einfach nur eine Ausbildung machen und eine Familie gründen. Erst als ich meinen Kinderwunsch aufgeben musste, begann ich mit meinem berufsbegleitenden Studium."

 

Also haben Sie sich für Karriere als Plan B entschieden?

"Für eine Karriere entscheiden musste ich mich nicht, die kam von allein ins Rollen. Bei der Stadt wurde ich immer wieder gefragt, ob ich mich denn nicht auf diese oder jene Stelle bewerben wolle. So war ich zu Beginn meiner Laufbahn nur kurz Sachbearbeiterin, aber gleichzeitig auch schon stellvertretende Abteilungsleiterin. Mit 25 Jahren wurde ich Führungskraft und hatte sechs ältere Mitarbeiter, sie haben mich als ihre Vorgesetzte problemlos akzeptiert. Als ich mit Anfang 30 Oberamtsrätin wurde und die Wohnungsvermittlungsstelle geleitet habe, gab es in der Stadtverwaltung Frankfurt damals noch keine weitere Oberamtsrätin.

Dr. Sylivia Kerbel

Sylvia Kerbel, Jahrgang 1949, startet nach dem Abitur im Jahr 1968 ihre Laufbahn bei der Stadt Frankfurt. Nach der Ausbildung zur Diplom-Verwaltungswirtin studiert sie berufsbegleitend Betriebs- und Volkswirtschaft an der Fernuniversität in Hagen und promoviert, ebenfalls berufsbegleitend, an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Als Sylvia Kerbel 1990 zur Nassauischen Heimstätte wechselt, kann sie bereits auf eine zwanzigjährige Beamtenlaufbahn in verschiedenen Führungspositionen bei der Stadt Frankfurt zurückblicken, etwa als Leiterin der kommunalen Wohnungsvermittlungsstelle. Bis 2013 ist sie für die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte I Wohnstadt tätig, zuletzt leitet sie den Unternehmensbereich "Wohnen" mit mehr als 300 Mitarbeitern.

Wie erklären Sie sich Ihren außergewöhnlichen Weg?

"Ich bin in einem Geschäftshaushalt großgeworden und war schon als Kind früh erwachsen. Meine Eltern ließen mir den Freiraum, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Das half mir später, dadurch galt ich aber auch als forsch. Außerdem war ich schon immer sehr direkt, was einem nicht nur Freunde beschert. Obwohl ich den Ruf einer 'strengen' Chefin hatte, wird mir von meinen ehemaligen Mitarbeitern gespiegelt, dass sie sich immer auf mich verlassen konnten. Zu vielen habe ich noch heute Kontakt und sie sagen mir, sie hätten nie diese Karriere gemacht, wenn sie nicht so viel von mir gelernt hätten und durch meine 'harte Schule' gegangen wären.“

Hatten Sie denn männliche Förderer auf Ihrem Karriereweg?

"Natürlich, ohne von Männern gefördert zu werden, hätten Frauen damals nichts werden können. An den Schaltstellen saßen nur Männer und dort sitzen sie in der Mehrzahl auch heute noch!"

 

Hatten Sie das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden?

"Nein, ernst genommen wurde ich immer. Eine Freundin sagte mir einmal, dass ihr niemand zuhören würde in einer Besprechung. Das konnte ich nicht nachvollziehen, das war bei mir nicht der Fall. Ich war einfach immer nur ich, wollte keine einstudierte Rolle spielen, sondern authentisch sein. Ich hatte auch nie ein Problem damit, Verantwortung zu übernehmen und galt als sehr entscheidungsfreudig."

Und wie empfanden Sie die Einstellung gegenüber weiblichen Führungskräften als Sie 1990 als Prokuristin zur Nassauischen Heimstätte kamen?

"Mein erster Eindruck war, dass die Gleichberechtigung hier schon weiter fortgeschritten war als in der Behörde. Es gab damals schon eine Betriebsratsvorsitzende und einige wenige Abteilungsleiterinnen. Auf den Führungsebenen darüber war ich als Prokuristin und Unternehmensbereichsleiterin bis zu meinem Ruhestand allerdings allein auf weiter Flur. Ich erinnere mich an Sitzungen mit den Geschäftsführern, um über Projekte zu berichten, an denen ich als einzige Frau teilgenommen habe. Einer der Herren begrüßte alle mit 'Guten Morgen, meine Herren‘'– und das obwohl ich neben ihm saß. Das prallte an mir ab, ich habe gelächelt und gesagt: 'Das freut mich aber, dass ich sogar in den Rang eines Mannes erhoben wurde.‘'Selbst als wir Ende der 1990er Jahre unseren Firmensitz am Schaumainkai umgebaut haben und auf der Geschäftsführer-Etage Damentoiletten eingebaut werden sollten, hieß es noch: 'Wir brauchen keine Damentoiletten, wir wollen unter uns bleiben.' Heute hat die NHW endlich eine Geschäftsführerin.“

Ihnen wird von Mitarbeitern folgendes Zitat zugeschrieben: "Es ist mir egal, wer unter mir Geschäftsführer ist!" Stimmt das?

"Ja, das stimmt. Dieser flapsige und nicht ernst gemeinte Ausspruch stammt von mir. Das hing damit zusammen, dass ich von meinen jeweiligen Geschäftsführern einen großen Freiraum eingeräumt bekam und sie auf das Tagesgeschäft wenig Einfluss nahmen. Wichtige Entscheidungen habe ich mir selbstverständlich von der Geschäftsführung genehmigen lassen."

 

Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihren Mitarbeitern? Haben die eine Frau als Führungskraft akzeptiert?

"Mangelnde Akzeptanz war zu keiner Zeit ein Problem. Bei einigen Frauen hatte ich zu Beginn meiner Tätigkeit das Gefühl, dass ich ihnen suspekt war. Sie haben sich wahrscheinlich gedacht: Das kann doch keine richtige Frau sein, so tritt eine Frau nicht auf. Ich hörte auch oft diesen Spruch: 'Frau Kerbel, Sie sind der einzige Mann in der Heimstätte.' Der ist mehrfach gefallen, auch Außenstehende, mit denen ich Verhandlung geführt habe, empfanden das wohl als Kompliment – ich aber nicht. Ich habe mich mehr als 40 Jahre in einer männerdominierten Berufswelt bewegt. Nach wenigen Jahren hatte ich mich so daran gewöhnt, dass es mir gar nicht mehr auffiel, wie oft ich die einzige Frau war. Als ich mir nach kurzer Zeit – erst bei der Stadtverwaltung, dann bei der NHW und in der Branche – eine gewisse Position erarbeitet hatte und bekannt war, spielte die Frage nach dem Geschlecht keine Rolle mehr."

Was raten Sie jungen Frauen, die heute Karriere machen wollen?

"Selbstbewusstsein zu entwickeln, authentisch zu bleiben und nicht zu versuchen, eine Männerrolle zu imitieren. Wenn mir eine Stelle angeboten wurde, habe ich mich nicht gefragt, ob ich das kann. Im Gegenteil, ich habe mir immer gedacht: 'Klar kannst du das!' Noch zum Ende meiner Karriere habe ich oft erlebt, dass Frauen, die für Führungspositionen geeignet waren, sich diese nicht zugetraut haben – obwohl sie aus meiner Sicht besser geeignet waren als ihre Mitbewerber. Männer trauen sich viel mehr zu. Dieses Selbstvertrauen brauchen Frauen auch. Aber es hat sich in den letzten 30 Jahren zum Glück viel bewegt. Frauen fehlen oftmals noch die Netzwerke, daran sollten wir arbeiten."

Wie blicken Sie mit etwas Abstand auf Ihr Berufsleben zurück?

"Ich blicke sehr zufrieden auf mein Berufsleben zurück, ich konnte wahnsinnig viel gestalten."

Wie sieht Ihr Ruhestand aus?

"Es ist ein 'Unruhestand' und gleicht irgendwie meinem Berufsleben. Noch am Tag meiner Verabschiedung bei der NHW nahm ich nachmittags an der ersten Kurseinheit zur 'Leiterin von Wortgottesfeiern' in der katholischen Kirche teil. Seit dieser Zeit engagiere ich mich ehrenamtlich und kämpfe seit letztem Jahr als Dekanatsratsvorsitzende und Mitglied des Katholikenrates für die Durchsetzung der dringend notwendigen Reformen in der katholischen Kirche."